Wie Traktionsbatterien nach dem Auto in stationären und mobilen Anwendungen überzeugen – und worauf Ingenieure und Entscheidungsträger achten müssen.

 

Warum Second-Life technisch Sinn ergibt

Traktionsbatterien sind der wertvollste und komplexeste Teil elektrischer Antriebe – und sie altern. Am Ende der automobile Nutzung entscheidet der Zustand über den nächsten Schritt: Wiederverwendung im Fahrzeug, Umwidmung in weniger anspruchsvolle Anwendungen („Second-Life“) oder Demontage/Recycling. Diese Pfadentscheidung ist kein Bauchgefühl, sondern folgt messbaren Parametern wie Kapazität, Innenwiderstand und Fehlerfreiheit.

Besonders attraktiv ist die Umwidmung in stationäre oder semi-stationäre Speicher (z. B. PV-Zwischenspeicher, Baustellen- oder Notlichtversorgung) sowie mobile Nutzungen mit moderater Dynamik (z. B. Flurförderzeuge). Diese Kategorien – stationär, semi-stationär, mobil – strukturieren die Anforderungen und helfen bei der Auswahl geeigneter Batterien.

Von der Zelle zum System: was wirklich zählt

Technisch betrachtet ist eine Batterie mehr als die Summe ihrer Zellen. Für sichere Funktion müssen Zellspannung, Temperatur und Batteriestrom kontinuierlich überwacht werden; typische Li-Ion-Zellen arbeiten um 3,6 V Nennspannung, mit Grenzwerten, deren Über- oder Unterschreiten zu Degradation bis hin zu Sicherheitsrisiken führen kann. Ein modernes System umfasst Module mit Zellüberwachung und Balancing (CSC/ASIC), eine Kontrolleinheit für SOC/SOH-Berechnung und Leistungsmanagement, Hochvolt-Schütze und Strommessung – oft redundant ausgeführt.

Warum ist das so wichtig? Weil die späteren Second-Life-Lastprofile (z. B. viele flache Zyklen im Netzbetrieb vs. mehrstündige Zyklen im Heimspeicher) unmittelbar über Lebenserwartung, Wirkungsgrad und Sicherheit entscheiden – und damit darüber, ob eine gebrauchte Traktionsbatterie für das Zielprofil überhaupt taugt.

Messen statt raten: SOC, DOD, SOH sauber bestimmen

Solide Zustandsdiagnose ist die Eintrittskarte in jedes Weiterverwendungsprojekt. Der Ladezustand SOC ist das Verhältnis der aktuell eingeladenen Ah zur verfügbaren Kapazität; die Entladetiefe DOD ergibt sich als 100 % − SOC. Der Gesundheitszustand SOH wird als Verhältnis von aktueller Vollkapazität zur Nennkapazität definiert; unterhalb eines typischen Schwellenwerts von etwa 80 % spricht man (anwendungsabhängig) vom Ende der ursprünglichen Lebensdauer.

Aus Ingenieurssicht folgt daraus: Keine Second-Life-Freigabe ohne belastbare SOH-, SOC- und Innenwiderstandsdiagnose – idealerweise mit reproduzierbaren Prüfprozeduren, die das Zielprofil (Ströme, Temperaturen, Zyklenfenster) abbilden.

Alterung verstehen – Second-Life realistisch planen

Alterung ist nicht linear. Sie wird durch Temperatur, Stromraten und Zyklenfenster geprägt; typischerweise flacht die Kapazitätskurve zunächst wenig ab, bevor sie stärker fällt. In Second-Life-Szenarien wird häufig mit Einsatzbereichen oberhalb von ~50–80 % Restkapazität gearbeitet (konkret anwendungsabhängig), um ausreichend Reserve für Degradation in der Zweitnutzung zu haben.

Pragmatische Beispiele zeigen, dass dies funktioniert: Vom PV-Heimspeicher über netzstützende Großspeicher bis zu semi-stationären Lösungen existieren reale Pilot- und Praxisprojekte, die Second-Life-Batterien erfolgreich betreiben.

EOL-IS als Prozessgedanke: vom Ausbau bis zur Inbetriebnahme

Weiterverwendung ist ein Prozess, kein Einzelschritt. Ein durchgängiger Ablauf – von Ausbau, Diagnose, Demontage/Remontage über Integration, Test und Inbetriebnahme – minimiert Risiken und Kosten. Der systematische Ansatz dahinter: geordnete Bewertung, datenbasierte Zuordnung zur passenden Anwendung und dokumentierte Inbetriebnahme im Zielsystem.

Ingenieur-Takeaway: Definieren Sie den Ziel-Use-Case zuerst (z. B. PV-Shift vs. Netzstützung). Legen Sie dann Grenzwerte für SOH, Innenwiderstand, Temperaturfenster, C-Rate und zugelassene DOD fest. Erst wenn die Batterie gegen diese Kriterien bestanden hat, lohnt sich der Umbau wirtschaftlich – und bleibt sicher.

Anforderungsprofile: stationär, semi-stationär, mobil – kurz & knackig

  • Stationär (z. B. Heimspeicher, Netzstützung): gleichmäßigere Lasten, Fokus auf Zyklenfestigkeit, Wirkungsgrad und kalendarische Stabilität.
  • Semi-stationär (z. B. Baustellenlicht): wie stationär, aber mit Umsetz-/Transportfähigkeit – mechanische Robustheit und schnelle Wiederinbetriebnahme zählen.
  • Mobil (z. B. Flurförderzeuge/E-Scooter): dynamischere Leistungsanforderungen, deutlich höhere Spitzenströme – prüfen Sie Innenwiderstand und Wärmehaushalt besonders streng.

Die Auswahl geeigneter Batterien erfolgt anhand klarer Parameter-Sets (u. a. Kapazität, Innenwiderstand, Temperatur- und Strombereich, zulässige Zyklentiefe, Selbstentladung).

Sicherheit zuerst: Normen, Architektur, Betrieb

Sicherheit entsteht aus Chemie, Architektur und Betrieb: robuste Zellchemie und Systempackaging, zuverlässige BMS-Funktionen (Überwachung, Balancing, Grenzwert-/Fehlerbehandlung), definierte Abschaltpfade (Schütze/Fuse), überzeugendes Thermomanagement – und ein Betrieb, der Temperaturschichtung, zu hohe C-Raten oder ungünstige SoC-Mittel vermeidet.

Für stationäre/industrielle Anwendungen ist IEC 62619 die zentrale Sicherheitsnorm auf Zelle/Batterie-Ebene; sie definiert Anforderungen und Prüfungen für den sicheren Betrieb sekundärer Li-Zellen in industriellen und stationären Anwendungen. In Deutschland adressiert VDE-AR-E 2510-50 die Sicherheit kompletter stationärer Li-Ion-Speichersysteme (BESS) – inklusive Anforderungen an Aufbau, Schutzkonzepte und Betrieb. Für Transport und Logistik gilt das UN 38.3-Regelwerk samt Test-Summary-Pflicht – relevant spätestens beim Versand von ausgebauten oder umgewidmeten Batterien.

Hinweis Qualifikation & Spannungen: Der Umgang mit Systemen unter 60 V (Klein-/Low-Volt) unterscheidet sich in Pflichten und Gefährdungen deutlich von Niederspannung/Hochvolt (typ. ≥ 60 V DC). Entsprechend unterscheiden sich Qualifikationsanforderungen nach deutschem Regelwerk; im Automotive-Umfeld ist z. B. die DGUV-Information 209-093 etabliert, in Projekten kommen zudem VDE/IEC-Regeln zur Anwendung. Diese Aspekte gehören in die Betriebs- und Inbetriebnahmekonzepte, werden hier aber nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Daten & Transparenz: wohin die Reise geht

Die EU-Batterieverordnung (EU) 2023/1542 verankert Nachhaltigkeits- und Transparenzpflichten über den gesamten Lebenszyklus. Besonders einschneidend für Second-Life-Vorhaben: der Batteriepass – ab 1. Februar 2027 verpflichtend für EV- und Industriebatterien > 2 kWh, als digitaler Datensatz (QR-verknüpft) zu Herkunft, Zusammensetzung, Leistung und Nutzung. Das erleichtert Zustandsbewertung und Einbindung in neue Anwendungen erheblich.

Engineering-Konsequenz: Wer heute Second-Life plant, sollte Datenmodelle und Schnittstellen so gestalten, dass künftige Batteriepass-Informationen (Zyklen, Temperaturhistorie, Reparaturen, Messdaten) nahtlos in die Eignungsprüfung und das BMS des Zielsystems einfließen können.

Mini-Leitfaden für die technische Eignungsprüfung

  1. Use-Case definieren: Stationär (PV-Shift/Regelleistung), semi-stationär (temporäre Versorgung), mobil (Antrieb/Flurförderzeug). Lastprofil dokumentieren.
  2. Zustand erfassen: SOH (≥ Schwelle), SOC-Fenster, Innenwiderstand, Temperaturverhalten, Fehlerspeicher.
  3. Systemgrenzen festlegen: DOD, C-Raten, Temperaturfenster, zulässige Imbalance, Kontaktor-/Sicherungsauslegung.
  4. Sicherheitskonzept prüfen: Normen-Konformität (IEC 62619 auf Batterie-Ebene; ggf. VDE-AR-E 2510-50 auf System-Ebene), Schutzpfade, Fehlerreaktionen.
  5. Integration & Test: BMS-Anbindung (SOC/SOH-Modelle), Balancing-Strategie, Thermik-Verifikation im Zielprofil, Abnahmeprüfung inkl. Dokumentation (auch im Hinblick auf UN 38.3-Transport).

Praxisnahe Beispiele – worauf es jeweils ankommt

  • PV-Heimspeicher (stationär): relativ gleichmäßige Energieaufnahme mit witterungsbedingten Variationen → Zyklenfestigkeit, hohe Round-Trip-Effizienz, robuste Thermik.
  • Netzstützung/Peak-Shaving (stationär): viele kurze Lastspitzen, hoher Anspruch an verlustarme Energieübertragung und schnelle Regelbarkeit.
  • Baustellenbeleuchtung (semi-stationär): wiederholter Auf-/Abbau, wechselnde Umgebung → mechanische Robustheit, einfache Inbetriebnahme, tolerante Thermik.

Fazit: Second Life kann viel bringen, aber sollte bedacht und gezielt laufen

Second-Life lohnt sich technisch, wenn Daten, Design und Disziplin stimmen. Wer die Zustandsgrößen (SOC/DOD/SOH) sauber ermittelt, das Zielprofil ehrlich durchsimuliert und Normen- sowie Sicherheitskonzepte konsequent umsetzt, erhält wirtschaftliche Speicher mit kalkulierbarem Risiko – sei es im Heimspeicher, in der Netzstützung oder in semi-stationären Anwendungen. Die gute Nachricht: Praxis und Pilotprojekte zeigen die Machbarkeit; die nächste Evolutionsstufe – Stichwort Batteriepass – wird Second-Life zusätzlich beschleunigen, weil sie Transparenz und automatisierbare Eignungsprüfungen bringt.

Kurz zusammengefasst für Elektroingenieure und -meister:

  • Technik: BMS-Überwachung, klare Grenzwerte, anwendungsorientierte Systemauslegung.
  • Sicherheit: IEC 62619/UN 38.3/VDE-AR-E 2510-50 im Blick behalten; Schutzpfade planen.
  • Qualifikation: Unter 60 V ≠ Hochvolt – unterschiedliche Gefährdungen, Verfahren und Qualifikationsanforderungen (z. B. nach DGUV-I 209-093, VDE/IEC).
  • Zukunft: Digitale Datentiefe (Batteriepass) macht Second-Life planbarer – nutzen!

Wer im Umfeld von Hochvolt-Systemen arbeitet, trägt Verantwortung für die Sicherheit von Mensch, Umwelt und Betrieb. Eine solide Ausbildung – etwa über die Batteriebefundung sowie der Fachkundigen Person für Hochvolt bei TCS – ist dafür der erste Schritt.

PS: Unsere Empfehlung hierzu: Unser kostenloses (WIRKLICH kostenlos, auch OHNE Emailadresse angebene zu müssen!) Paper “6 Dinge, die Sie über die Hochvoltqualifizierung Ihrer Mitarbeiter im Voraus wissen müssen” ist hier erreichbar (klick).